„JEDE ZEIT HAT IHRE AUFGABE,
UND DURCH DIE LÖSUNG DERSELBEN RÜCKT DIE MENSCHHEIT WEITER.“

HEINRICH HEINE

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Mi 06. Sep 2017
Jour fixe, mit Damen

Deutschjüdische Künstler und Dichter im 1. Weltkrieg (Fotogalerie)

 Die Zeit schien eine Weile stillzustehen. Mit seinem beeindrucken Vortrag „Deutschjüdische Künstler und Dichter im 1. Weltkrieg“ am 6. September 2017 im Steigenberger Parkhotel entführte Dr. Steffen Bruendel das Auditorium zu einer außergewöhnlichen Zeitreise, die mit Heinrich Heine begann und mit einem bewegenden Gedicht von Mascha Kaléko, “Im Exil“, endete.
Zum Jour fixe des Heinrich Heines Kreises waren zahlreich Heine-Freunde mit ihren Damen sowie weitere Gäste erschienen, die mit Spannung aus dem Munde des renommierten Historikers und Buchautors eine dezidierte und schonungslose Aufklärung über eine geschichtliche Entwicklung in Deutschland am Beispiel deutschjüdischer Künstler erwarteten, auf die lange der Schatten des Vergessens und Verdrängens lag. Bekannt durch seine beiden Bücher über die akribische Aufarbeitung dieses Sujets, versprach der Vortrag von Dr. Bruendel eine Sternstunde im Geiste Heinrich Heines, die kritische Aufklärung über ein tragisches Kapitel der deutschsprachigen Juden im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Die erstrebte Aufnahme und Akzeptanz als vollwertige und gleichberechtigte deutsche Staatsbürger, die in der wilhelminischen Ära politisch gewünschte, aber halbherzig begleitete Integration deutschsprachiger Juden scheiterte letztendlich am aufflammenden Antisemitismus der letzten Kriegsjahre des 1. Weltkriegs. Die Weichen nach Auschwitz und Treblinka wurden in mente gestellt, als der Staat den deutschen Juden mit der Judenzählung im Kriegsjahr 1916 sein Misstrauen aussprach.

Dr. Andreas Turnsek begrüßte Dr. Steffen Bruendel, dankte ihm, dass er die Einladung der Heine-Freunde angenommen hat, um – eigens aus Frankfurt angereist - mit seinem speziell auf den Heine Kreis zugeschnittenen Vortrag den Abend zu krönen. Bernd Meloch begrüße im Anschluss die Gäste des Abends und wünschte der Veranstaltung gutes Gelingen. Der Vortrag gliederte sich in sechs Abschnitte, die zugleich als Wegmarken die Strömungen der wechselvollen historischen Entwicklung benennen: 1. Der Anfang: deutschjüdischer Künstler zwischen Vaterland und Exil 2. Die Lage: Fortschrittsoptimismus und Kulturpessimismus 3. Die Hoffnung: Kriegsbeginn und Mobilisierungseuphorie 4. Die Desillusionierung: Stellungskrieg und Grabenkämpfe 5. Der Wendepunk: Die Judenzählung 1916 6. Das Ende: deutschjüdische Künstler zwischen Exil und Tod.   In der Folge werden nur einige Aspekte dargestellt. Der Vortrag bestach durch eine überzeugende Authentizität, da Dr. Steffen Bruendel namhafte deutschjüdische Künstler – Schriftsteller, Dichter, Maler und Intellektuelle - als Zeitzeugen aufrief. Auf Folien präsentierte er Exponate des Expressionismus, die den Kulturpessimismus in Metaphern von Feuersbrünsten und apokalyptischen Szenerien veranschaulichten, und stellte Gedichte und Zitate vor, aus denen die Kriegseuphorie und auch das nationalistische Bekenntnis zu Deutschland sprach, als Kämpfer für Deutschland in den Krieg zu ziehen. Er ließ vor allem Zeitzeugen zu Wort kommen, indem er aus ihren Werken die Passagen rezitierte, aus denen die Sehnsucht nach Integration und das Bekenntnis zu Deutschland klang. Er rezitierte auch jene, bei denen die Euphorie angesichts der Materialschlachten mit unzähligen Toten einem Entsetzen über das Unheil des Kriegs gewichen war. In den Worten von Karl Kraus, dem deutschsprachigen Juden aus Wien, hatte das bejubelte „technoromantische Abenteuer“ in den „chlorreichen Schlachten“ das wahre Antlitz des 1. Weltkriegs offenbart. Ernst Toller, als Kriegsfreiwilliger mit Hurra an die Front, wegen Tapferkeit ausgezeichnet und zum Unteroffizier befördert, erlitt im Sommer 2016 den physischen und psychischen Zusammenbruch, konvertierte zum erbitterten Gegner des Kriegs und verfasste seine ersten Anti-Kriegsgedichte. Den Prolog des Vortrags bildete Heinrich Heine, dessen Schicksal beispielhaft für die existentielle Zerrissenheit deutschjüdischer Menschen seiner Zeit steht, als deutscher Patriot, zudem noch zum Christentum konvertiert, durch ständige Anfeindungen und massive Verfolgung ins Exil getrieben worden zu sein. Seine Nachtgedanken bringen diese Verzweiflung erschütternd zum Ausdruck. Heine durchlebte dieses tragische Gefühl, ein deutschgesinnter Poet, Schriftsteller und Chronist wähnt sich als ein verhasster Jude in einer „babylonischen Gefangenschaft“, der er sich nur durch das Exil in Paris entziehen konnte. Ein bewegender Einstieg.   Die Kriegseuphorie verdankt sich zwei Entwicklungen. Die berechtigte Hoffnung auf die „verordnete“ Integration stärkte den Nationalismus vieler deutschsprachiger Juden. Wahre Vaterlandsgesellen zu sein, führte zu einer starken Identifikation mit den politischen Absichten und Anschauungen der wilhelminischen Ära bis hin zum Kriegsausbruch. Das „Ich kenne nur Deutsche“ von Wilhelm II wurde zum Credo vieler deutschsprachiger Juden, die freiwillig in den Krieg zogen. Für Deutschland zu kämpfen und sterben, das war Pflicht und Zeugnis zugleich, ein vollwertiger Deutscher zu sein. Die andere Entwicklung rührt aus dem Kulturpessimismus, der sich im Expressionismus in Dichtung und Malerei Ausdruck verschaffte. Der Stillstand, der Mehltau, die Dekadenz gaben Anlass, durch einen Krieg könne diese Stagnation überwunden und eine neue, fortschrittliche Gesellschaft bewirkt werden. Der Krieg als eine Läuterung, als ein Prozess der Klärung, als Chance zu einem Neubeginn, so die Hoffnungen, die auch die meisten deutschsprachigen Juden in Euphorie versetzen.   Die Wende brachte der Sommer 1916, ein kalter, sonnenarmer und niederschlagsreicher Sommer. Es war ein Patt auf den Schlachtfeldern eingetreten, der Krieg trat auf der Stelle, Rien ne vas plus. Statt der weißen Fahne seitens des Deutschen Reichs entartete der Waffengang zur Materialschlacht, der bedenkenlos Menschen geopfert wurden. Giftgas, Artillerie, Maschinengewehre metzelten Zigtausende Deutsche und Franzosen. Verdun ist das Synonym und das Menetekel dieses sinnlosen und Menschen verachtenden Gemetzels. Die Idee einer Läuterung der Gesellschaft durch Krieg war längst einer Ernüchterung gewichen, dass Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, so Karl von Clausewitz, nicht dem zivilisatorischen Fortschritt dient, sondern eine Ausgeburt der Barbarei ist.   Es kam ärger für die deutschsprachigen Juden. Der Versorgungsnotstand in Deutschland führte zu einer Debatte, ob auch jüdische Deutsche auf den Schlachtfeldern in Frankreich sind. Es wurde 1916 eine Judenzählung verordnet. Das Ergebnis, dass jüdische Deutsche als Soldaten proportional genau so häufig vertreten sind, wie nichtjüdische Deutsche, kam bis weit hinter Kriegsende unter Verschluss. Mit dieser Judenzählung wurde ein Antisemitismus angeheizt, der den Hoffnungen auf Integration ein Ende setzte und nach der Machtergreifung zwangsläufig zu den Pogromen der Reichskristallnacht und zum Holocaust führte.   Zum Abschluss des Vortrags sprach Mascha Kaléko in ihrem 1945 geschriebenen Gedicht „Im Exil“ die bittere Wahrheit aus.   Emigranten-Monolog
Ich hatte einst ein schönes Vaterland -
So sang schon der Flüchtling Heine.
Das seine stand am Rheine,
Das meine auf märkischem Sand.

Wir alle hatten einst ein (siehe oben!)
Das fraß die Pest, das ist im Sturm zerstoben.
O Röslein auf der Heide,
Dich brach die Kraftdurchfreude.

Die Nachtigallen werden stumm,
Sahn sich nach sicherm Wohnsitz um.
Und nur die Geier schreien
Hoch über Gräberreihen.

Das wird nie wieder, wie es war,
Wenn es auch anders wird.
Auch, wenn das liebe Glöcklein tönt,
Auch wenn kein Schwert mehr klirrt.

Mir ist zuweilen so, als ob
Das Herz in mir zerbrach.
Ich habe manchmal Heimweh.
Ich weiß nur nicht, wonach . . .
  Stille, Schweigen, Betroffenheit. Dann der Applaus für Dr. Steffen Bruendel. Er stellte sich den Fragen, es gab nur wenige. Zu überzeugend, ja erdrückend war die historische Wahrheit, die er in aufwendigen Recherchen und engagierter Forscherarbeit ans Licht gebracht hatte. Den Dank der Heine-Freunde und die Würdigung seines Vortrags sprach Dr. Andreas Turnsek aus. Ein Buchpräsent als Erinnerung an eine Sternstunde. Wir wurden in die herbstlich gestimmte Nacht entlassen.  

 

(hb)

 

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